Samstag, 6. November 2010

Eine Tapete. Darauf, Blüten. Fleischige Blüten. Sie starrten sie an. Es waren Blüten wie hungrige Mäuler. Aggressive Blüten. Als würde sie gleich verschlungen werden. Sie versuchte immer wieder sich die Blüten harmlos und schön vorzustellen. Doch es gelang ihr nicht. Der Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf. Trotzdem versuchte sie es wieder und wieder. Ihr Kopf fing an zu brummen. Sie sollte es lassen. Sollte sich über anderes Gedanken machen.
Fragen, Fragen, Fragen. Wo waren antworten? Woher kamen diese Fragen? Wieso kamen sie? Und wo war sie? Was hatte sie gemacht, dass sie nun hier saß? Was hatte sie verbrochen? Wofür wurde sie bestraft? Wer war dieser Mann der gegenüber von ihr saß? Und mit wem redete er?
Sie brauchte ein Fenster! Sie brauchte Luft. Sie musste ruhig atmen. Genügend Sauerstoff in ihre Lunge schaffen. Sie musste ruhig werden. Kraft sammeln. Und Mut.
Sie hatte keine Ahnung. Auch nicht davon, wieso sie hier auf dem Stuhl zusammengekauert saß.
Ihr wurde schwindelig. Sie hielt sich am Stuhl fest. Sie merkte entsetzt wie schwach sie war. Jeder Knochen im Leib tat ihr weh. Sie hatte doch noch nichts gemacht. Was setzte sie so zu?
Vielleicht war das ein Traum? Und sie steckte darin fest. In einem seltsam eindrücklichen Traum, der ihr vorgaukelte dies hier sei die Wirklichkeit? Sie konnte fühlen, hören, Farben sehen. Waren Träume farbig? Oder schwarz-weiß? Es war kein Traum. Das alles war zu real. Träume waren anders. Das wusste sie.
Sie zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Dieser Mann, er machte ihr Angst. Was ihr aber viel mehr Angst macht war, diese Wut, diese Verzweiflung, diese Ahnungslosigkeit und dieses Durcheinander. ‚Ruhig’ dachte sie, ‚Ganz ruhig.’ Es nütze nichts. Ihr Nerven lagen bloß. Sie musste hier raus. Sie konnte nicht abwarten, was geschehen würde. Sie konnte nicht. Sie durfte nicht. Sie musste hier bleiben. Wenigstens für den Anfang. Bei diesem Gedanken spürte sie, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Wie die Härchen an ihren Unterarmen sich aufstellten. Sie spürte die Gänsehaut, die sie überrieselte, sogar im Gesicht. Es kostete sie alle Kraft sich zusammen zu reisen. Sie schluckte. Trocken. Schmerzhaft. Versuchte, sich zu räuspern. Lautlos. Aber es ging nichts.
Sie musste klare Gedanken fassen. Sie musste jeden einzelnen Schritt nachvollziehen um wenigstens ein bisschen zu verstehen was geschah. Sie konnte nicht begreifen.
Wie fing es an? Die Beschattung. Als sie und ihre Mutter verfolgt wurden.
Der Gedanke an ihre Mutter ließ sie wieder zusammensacken.
Dann die Festnahme, als sie im Schlafanzug den Polizisten gegenüberstand. Die Trennung. Als ihre Mutter und sie getrennt wurden. Dann das Verhör. Dann wurde sie Weggesperrt. Wieso? Immer dieses Wieso? Gab es überhaupt eine Antwort auf diese Frage?
Sie versuchte sich an alles zu erinnern. Sie war überfordert. Wie viele Stunden waren schon vergangen? Mittlerweile war es draußen schon dunkel. Sie lag wach im Bett. Aber an schlafen konnte sie nicht denken. Wo war sie? Diese Burg. Sie, die Menschen hier. Die Erzieher. Sie wollten sie einschüchtern. Nicht nur sie. Auch die anderen. Sie wollten über sie bestimmen. Sie konnte das nicht zulassen. Sie war allein wie sollte sie das durchstehen? Niemand da. Keiner, der ihr helfen konnte. Wollte das denn auch einer? Alles war so fremd.
Ihr kam es vor, als hätte sie sich in ihrem Innern ein Nest gebaut. Als säße sie darin versteckt, sicher und geborgen, während draußen ihr Körper weiter funktionierte. Dunkel war es hier drinnen. Warm. Weich. Sie hatte keinen Hunger und keinen Durst, empfand mittlerweile keine Schmerzen und keine Traurigkeit mehr. Irgendwer hatte die Kontrolle übernommen. Das war beruhigend. Irgendwer fühlte sich immer verantwortlich. Sie ließen sie nicht im Stich. Zusammengekauert in ihrer Höhle, schloss sie die Augen und horchte auf die Stille. Für einen Moment war alles gut. Doch dann kam es wieder. Diese Frage. Das Einzigste was nicht verging. Was nicht aufhörte. Was sie plagte. War diese Frage. Wieso? Diese Frage, sie verging nicht. Es schien als wäre sie nicht zu überwältigen. Wieso?